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Haikus mit Husserl

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Überblick

In Haikus werden Begebenheiten und Erlebnisse beschrieben, die realistisch sind und typischerweise jedem Menschen widerfahren können. Da Metaphern, Wortspiele und Abstraktionen vermieden werden, kann man das so sehen, dass dort Phänomene beschrieben werden. Haikus verweisen auf Grunderlebnisse ohne metaphysischen Überbau. Damit bieten sie eine Plattform, auf der sich Phänomenologie besprechen läßt. Aufgrund ihrer Kürze verlangen sie dem Dichter einiges an Kunstfertigkeit ab. Umgekehrt kann ein Rezipient davon ausgehen, dass jedes Wort mit Bedacht gewählt wurde. Dadurch treten die Grenzen der sprachlichen Möglichkeiten zutage. Da stets eine Begebenheit gemeint ist, in die sich ein Rezipient hinein versetzen kann, werden die sprachlichen Unzulänglichkeiten im Kontrast zum Gemeinten gut erkennbar. Insbesondere ist das Erleben selbst nicht in Worte ausdrückbar, sondern nur die es bedingenden Umstände. Diese aber sind durchaus Konventionen, Abstraktionen, sozialen Kontexten verhaftet, die nicht gemeint, jedoch gerade erst eine Verständnisebene bilden.

Edmund Husserl ist der Begründer der philosophischen Richtung "Phänomenologie". Es gibt Abhandlungen von ihm, in denen er sich darum bemüht, eine phänomenologische Methode zu entwickeln, wie beispielsweise in "Cartesianische Meditationen" und auch in anderen seiner späten Schriften. Zwei zentrale aufeinander aufbauende Phasen tauchen dort auf: Die Phase der "Ausklammerung" der natürlichen Einstellung, Epoché genannt und die eidetische Variation. Im folgenden sollen diese beiden Phasen anhand von Haikus verständlich dargestellt werden. Gedacht ist das Ganze als eine vereinfachende, erste Einführung in die Thematik, die zu einer eingehenden Beschäftigung mit den Schriften Husserls motivieren soll. Konkret wird gebeten, die ersten vier Meditationen sorgfältig zu lesen, damit sie später besprochen werden können.

Stellvertretend für die große Gemeinschaft der Haiku-Dichterinnen und Dichter, werden Haikus von Masaoka Shiki in deutscher Übersetzung verwendet. Shiki hat in Japan die Anfänge der Industrialisierung erlebt und indem sich dies auch in seinen Dichtungen widerspiegelt, rückt er in die Nähe zu der heutigen Industriegesellschaft, aber ist gleichzeitig Mittler zwischen der alten japanischen Gesellschaft und der heutigen. Shiki war sehr kränklich. Auch diese Bürde schlägt sich in seinen Dichtungen nieder. Und auch die sich dabei ausdrückende existentielle Tiefe, macht seine Dichtung zu einer reichen Quelle phänomenologisch wirksamer Äußerungen.

Natürlich ist nicht allein die Interpretation dieser Gedichte der hier gegangene Weg, Phänomenologie als Methode zu vermitteln. Vielmehr funktioniert das eher, wenn der innere Prozeß beim Rezipienten selbst in den Fokus genommen wird.

  • Die Seidenraupen
  • raspeln leise in der Nacht
  • die Maulbeerblätter.
Quelle für alle Haikus von Masaoka Shiki: www.haiku-heute.de
Some poems of Masaoka Shiki in english: https://100.best-poems.net

Die natürliche Einstellung und ihre Einklammerung (Epoché)

Hier tauchen viele Begriffe auf, die die Situation klären: Seidenraupen, Maulbeerblätter, Nacht. Allerdings geht es hier wohl eher um das Erleben nächtlicher Geräusche. Hier schon zeigt sich die Unzulänglichkeit des Sprachgebrauchs, aufgrund dessen sich das Gemeinte nicht direkt, sondern nur über Umwege, das ist, durch Verweis auf geteilte Konventionen und geteiltes Wissen übermitteln läßt. All das ist inbegriffen in die von Husserl so bezeichnete "natürliche Einstellung" des Menschen: Wir verstehen uns als in einer äußeren Welt agierende Personen. Es gibt dort Dinge und wir teilen das Wissen um diese Dinge mit unseren Mitmenschen. Das Erleben nächtlicher Geräusche, dieses Phänomen, kann abseits dieser natürlichen Einstellung Thema des Erlebens, des Erinnerns oder der Vorstellung werden. Wir brauchen die natürliche Einstellung nicht, um mit unserem Bewußtsein bei diesem Phänomen zu sein. Um aber anderen Menschen eine Vorstellung, die Erinnerung, oder die Aufmerksamkeit auf dieses Phänomen zu vermitteln, kommen wir nicht umhin, diese Vermittlung unter Berufung auf die miteinander geteilten natürlichen und institutionellen Begriffe und die Vorstellung einer äußeren Welt zu bewerkstelligen.

Nun könnte man das in dem Haiku Vermittelte als rein subjektiv, oder Psyche-abhängig bezeichnen und dagegen der vermittelten objektiven Sachlage die dominierende Rolle zusprechen. Diese Einstellung werden wohl insbesondere Menschen haben, die auch von sich sagen, sie könnten mit Gedichten nichts anfangen. Aus einer solchen Perspektive kommen den eingangs erwähnten Begriffen Seidenraupen, Maulbeerblätter, Nacht ein viel höherer Seinsanspruch zu, als dem Erleben nächtlicher Geräusche. Husserl argumentiert nun sinngemäß so: Was ist denn realer, als das, was uns als Phänomen zukommt, also als das, was uns als Bewußtseinsinhalt gegeben ist? Diese Phänomene sind unser einziger Zugang zur Welt. Wir haben gar nichts anderes als diesen Zugang. Also sollte doch jede Wissenschaft und jede diese fundierende Erkenntnistheorie dort beginnen und nicht bei Begriffen und bei einer als existent in unserer Vorstellung gesetzten Welt. Zuerst sind da also die nächtlichen Geräusche und erst dann kommen Begrifflichkeiten, die auf dieses Phänomen bezogen sind. Bei aller Subjektivität des Erlebens rührt aber das hier beschriebene Geräusch nicht aus Vorgängen in unserer Psyche, sondern wir sind uns ganz sicher, dass deren Ursache in der uns umgebenden äußeren welt liegen, deren Existenz uns auch als völlig sicher erscheint. Insofern sind die Phänomene nicht etwas, das rein subjektiv ist, noch sind sie rein objektiv. Sie bewegen sich zunächst außerhalb dieser Kategorien und verhelfen uns dazu auf eine außerhalb unserer selbst existierende Welt zu schließen und sie zu verstehen. Diesen Schritt nennt Husserl "transzendent", also hinübertretend. Und wenn er von in seinem Spätwerk von "transzendentaler Phänomenologie" spricht, so meint er genau diesen Schritt vom Phänomen zurück zur Welt und unserer Beziehung zu ihr.

Die Variation des gegebenen Phänomens in unserer Phantasie in einem sinnvollen Rahmen (eidetische Variation)

Die wenigen Wörter in dem Haiku gereichen nicht zu einer zweifelsfreien Reproduktion der Szene, die ursprünglich Anlaß zum Verfassen dieser drei Zeilen gegeben haben mag.

Was machen wir also, um uns Rechenschaft darüber abzulegen, ob wir die Zeilen in angemessener Weise interpretieren?

In unserer Phantasie wechselt die beschriebene Szene in einer gewissen Bandbreite. Es macht Sinn, dass die Person, die die Szene beschreibt auf ihrem Bett liegt. Denn diese Fokussiertheit auf Geräusche erleben wir vor allem dann, wenn nur noch wenige davon da sind, also nachts. Und nachts, jedenfalls später in der Nacht, liegen wir irgendwann im Bett. Jedenfalls ist dies ein Ort, an dem Geräusche, wie die hier beschriebenen eher unsere Aufmerksamkeit erlangen. Wir sind dort nämlich mit nichts anderem beschäftigt, als damit hoffentlich bald einzuschlafen. Die Fenster sind wahrscheinlich offen, jedenfalls dringen die Geräusche ohne aufgehalten zu werden zu der die Szene beschreibenden Person. All das sind Umstände, die wichtig dafür sind, dass das beschriebene Erlebnis überhaupt stattfinden kann. Egal ist dagegen, von welcher Art gegebenenfalls das Bett ist. Egal ist, was der betreffenden Person sonst so am Tag widerfahren ist.

Bei all dem, was nun aufgezählt wurde, wie denn die Situation, in der das Erlebnis stattfand ausgesehen haben mag, gibt es Punkte, in denen ich mit anderen Personen übereinstimmen mag, die dieses Gedicht interpretieren und Punkte, die diese anders einschätzen würden. In manchen Fällen sehe ich vielleicht ein, dass ich irgend ein Detail im Gedicht übersehen habe, das vielleicht eher die Einschätzung der anderen Person nahelegt, als meine. In anderen Fällen bleibt es aufgrund der unzureichend ausführlichen Beschreibung im Gedicht offen, welche Sichtweise sinnvoller ist. Indem ich in meiner Phantasie selber diese ganzen Möglichkeiten der Interpretation durchspiele, etabliert sich für mich in meiner Vorstellung die Szene in verschiedenen in sinnvoller Weise denkbaren Variationen. All diese sinnvollen Variationen existieren gleichberechtigt nebeneinander und überlagern sich in meiner Vorstellung. Sie kreisen um einen Kern, den man die Quintessenz des Gemeinten nennen könnte. Es wäre dasjenige, auf das sich alle intersubjektiv einigen können, dass es hier am ehesten gemeint ist.

Einmal angenommen, wir wären nun selber der Verfasser des Haikus. Unser Erleben würden wir in den drei Zeilen festhalten. Aber auch wir selber könnten nun diese Variation der Szene in unserer Phantasie vornehmen und uns so andere Varianten vorstellen, in denen sich das gleiche ausdrückt, was im Gedicht steht, das aber ein wenig anders ausfällt, als das Original. Nach Husserls Auffassung, führt eine solche Variation dessen, was sinnvollerweise auch möglich ist dahin, dass sich das Wesen / der Eidos einer Sache im Zentrum als Schnittmenge all dieser Variationen herauskristallisiert.

  • Über den Schienen
  • fliegen niedrig Wildgänse
  • in der Vollmondnacht.

Ein wenig gemahnt dieser Haiku an die Lebenswelten von Tieren und Menschen, wie sie bei Jakob von Uexküll beschrieben werden und Thema der letzten Lehrveranstaltung waren: Für den Menschen haben die Schienen die Bedeutung des Reisens und wecken manchmal ein Gefühl des Fernwehs. Auch die dahin ziehenden Wildgänse mögen ähnliche Gefühle wecken. Jedoch sind das, was wir Schienen nennen für die Wildgänse eher bedeutungslos. Vielleicht helfen Sie ihnen bei der Orientierung, wer weiß. All das kommt als Erlebnis bei der beschreibenden Person zusammen, weil die Szene durch den vollen Mond erhellt wird. Auch dieser ist ein Bedeutungsträger für unser Erleben. Sein Licht wird eher als kalt beschrieben und verweist im Zusammenhang mit dieser Herbstszene auf das Herannahen der winterlichen Kälte.

Dieses Gedicht auf eine Vermittlung eines Erlebens von Fernweh zu reduzieren, würde der Sache mit Sicherheit nicht gerecht werden. Jedoch um das Prinzip "eidetische Variation" zu verstehen, hilft es, einmal von diesem einfachen Fall auszugehen: Wir können viele Lebenssituationen anführen, die uns in ähnlicher Weise empfinden lassen, wie dann, wenn wir uns in die in den Haiku-Zeilen beschriebenen Situation einleben.

Eigentliches Sein

Beide Haikus zeichnen sich nun nicht dadurch aus, dass sie den Leser einen völlig überraschenden Kontextwechsel erleben lassen. Sie sind eher Beispiele für alltägliche Momente, in denen wir unserem urbanen Alltag mit all seinen Bedeutungszusammenhängen, die uns Sorge bereiten und für uns Verpflichtungen bedeuten, entfliehen. Wir entfliehen, indem wir einfach etwas unmittelbar erleben, das nicht durch unsere Vorstellung von einer äußeren Welt und unserer Beziehung zu ihr vermittelt ist, sondern uns unmittelbar als Phänomen zu Bewußtsein kommt. Heidegger, der eher die Bedingungen untersucht, unter denen die eine oder andere Art des Mensch-zu-Welt-Bezugs zustande kommt, bezeichnet einen solchen Zustand als eigentliches Sein, den anderen als uneigentliches Sein. Husserl, der in seiner Philosophie streng bei den Phänomenen bleibt, unterscheidet zwischen Erfüllungsgraden verschiedener Intentionen, also den Grad, in dem das Gemeinte unvermittelt als Phänomen vor uns steht. Beispiel: Erwähne ich gegenüber jemandem eine Person namentlich, so ist der Name zunächst ein Platzhalter, den mein Gegenüber mehr oder weniger mit Inhalt füllen kann. Der Umgang mit solchen Abstraktionen, ist wichtig, um den Alltag bewältigen zu können. Jedoch ist die Abstraktion immer weniger als das Original, ja verdeckt dieses sogar und ein ständiges Operieren in bloßen Abstraktionen, führt auf die Dauer auch bei uns selber zu einem unerfüllten Leben.

Kontextwechsel

Nun kann es sein, dass unser Alltagskontext uns Vieles nicht mehr als Existent erleben läßt, was Teil der uns umgebenden Mannigfaltigkeit einer überreichen Welt ist. Dieser Alltagskontext beschränkt unser Vorstellung in bestimmten Bereichen auf Abstraktionen, auf nur sehr schwach erfüllte Intentionen. So nehmen wir vielleicht manche Menschen nur als Kolleginnen und Kollegen war und dieser Status verdeckt etwas von deren Persönlichkeit, was es Wert wäre wahr genommen zu werden. Oder wir nehmen eine Landschaft nur als unseren Arbeitsweg wahr und übersehen deren Eigenheiten. Die folgenden Haikus von Shike eröffnen dem Rezipienten allesamt eine Perspektive, die diese wohl sonst, ohne das jeweilige Haiku eher nicht gefunden hätten. Insofern gewinnt in dieser Perspektive auch der Haiku-Dichter eher den Rang eines verständigen Reisebegleiters durch das Leben, als dass er bloß unterhaltsam und die Beschäftigung mit den Gedichten ein schöner Zeitvertreib wäre:

  • Die jungen Blätter
  • durcheinander gewirbelt
  • vom Rauch einer Lok.
  • Tief in den Bergen
  • das Hämmern der Steinhauer.
  • Da ruft ein Kuckuck.
  • Der Frühlingsregen.
  • Ich schreibe mein Tagebuch
  • im Bauch des Schiffes.
  • Das Vergnügungsboot
  • rastet menschenleer mitten
  • im Blütenregen.
  • Da quakt doch ein Frosch
  • mitten am helligsten Tag.
  • Das gehört sich nicht.